Freddy Litten

(Frederick S. Litten)

Kasimir Fajans ‒ Kurzbiographie

Die folgende Kurzbiographie wurde ursprünglich 2000 für den zweiten Band des "Professorenkatalogs" der Ludwig-Maximilians-Universität München verfaßt. Da jedoch das Erscheinen dieses Bandes immer noch nicht absehbar ist, wird sie hiermit in unveränderter Form im Internet präsentiert, um vielleicht doch noch von Nutzen zu sein.
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Fajans, Kasimir, * 27. 5. 1887 Warschau, † 18. 5. 1975 Ann Arbor, (isr.) ⚭ 1910 Salomea Kaplan, * 1889 Warschau, † 1982, Ärztin.
V Herman, Kaufmann, * 1853 Siedradz, † 1937, M Wanda Wolberg, * Lodz, † Warschau.

Nach Absolvierung des Realgymnasiums in Warschau 1904 ging F. an die Universität Leipzig, zuerst mit der Absicht Biologie zu studieren, dann wechselte er jedoch, von Wilhelm Ostwald beeindruckt, zur Chemie. 1907 zog er nach Heidelberg, wo er bei Georg Bredig studierte und 1909 promovierte. Ein Studienaufenthalt bei Richard Willstätter in Zürich 1909/10 erbrachte wenig, da F. mit dem stark empirischen Charakter der damaligen organischen Chemie nicht glücklich wurde und zudem das nötige experimentelle Geschick vermissen ließ. Er nahm dann eine frühere Anregung Philipp Lenards auf, beschäftigte sich intensiv mit Physik und ging 1910/11 zu Ernest Rutherford nach Manchester. 1911 holte ihn Bredig als Assistenten an die Technische Hochschule Karlsruhe, wo er sich 1912 habilitierte und 1913 Priv.-Doz. für physikalische Chemie wurde. 1917 erhielt er die Einladung Willstätters, in München die bisher unterbewertete physikalische Chemie zu vertreten. Am 1. 10. 1917 wurde F. an der Univ. München Priv.-Doz. mit Titel und Rang eines ao. Prof.s (und besoldetem Lehrauftrag) und Vorstand der physikalisch-chemischen Abteilung am Chemischen Laboratorium des Staates. Ohne Bezug zur Univ. wurde F. im Herbst 1923 als angeblicher Leiter einer polnisch-jüdischen Geheimgesellschaft denunziert und von der Polizei überprüft. Zum 1. 8. 1923 erhielt F. das neugeschaffene planmäßige Extraordinariat für physikalische Chemie an der Univ. München, zum 1. 8. 1925 Titel und Rang eines o. Prof.s. Zur Abwehr eines Rufs auf ein Ordinariat in Warschau wurden ihm am 2. 1. 1928 auch die Rechte eines o. Prof.s an der Univ. München verliehen. 1932 wurde F. Leiter eines eigenständigen Instituts für physikalische Chemie an der Univ. München, das mit Mitteln der Rockefeller-Foundation erbaut worden war. 1933 und 1934 gelang es der Univ. noch, unter Hinweis auf die Institutsgründung und das große Ansehen F.s, diesen gegen Entlassungsversuche zu schützen. Am 15. 7. 1935 widerrief jedoch die Regierung von Oberbayern die 1921 erfolgte Einbürgerung F.s, da sie als unerwünscht zu betrachten sei. In einer juristisch selbst damals umstrittenen Entscheidung beschloß dann das Bayer. Kultusministerium, F. am 30. 10. 1935 in den Ruhestand zu versetzen, da dieser Widerruf der Einbürgerung, obwohl unfreiwillig und von F. angefochten, als "Stellungnahme gegen den Staat" zu betrachten sei. Die Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Behörden über die Rechtmäßigkeit eines Ruhegehalts dauerten noch ein Jahr lang. Mittlerweile ging F. mit einem Rockefeller-Stipendium nach England und wurde von dort aus 1936 an die University of Michigan in Ann Arbor berufen, an der er 1957 emeritiert wurde. Sein Nachfolger Klaus Clusius bot nach dem Zweiten Weltkrieg F. wieder seine Prof. an, doch kehrte F. nur besuchsweise nach München zurück. Für seine Diss. erhielt F. 1909 den Victor-Meyer-Preis, 1948 die Medaille der Universität Liège. Er war korrespondierendes Mitglied der Russischen (1924), o. Mitglied der Bayer. (1927) und der Polnischen (1929) Akad. der Wissenschaften in Krakau, Mitglied der Faraday-Society in England (1929), Ehrenmitglied der Spanischen Gesellschaft für Physik und Chemie (1928), der Royal Institution of Great Britain (1931) und der Polnischen Chemischen Gesellschaft (1959).

In seiner Diss. beschäftigte sich F., auf Anregung von Bredig, mit der Katalyse, einem Grenzgebiet zwischen organischer und physikalischer Chemie. Er zeigte darin die erste asymmetrische Katalyse durch optisch aktive Katalysatoren. Im Zuge seiner Neuausrichtung in Richtung Physik beschäftigte er sich dann mit der Radioaktivität, wobei ihm in Manchester 1911 die Entdeckung gelang, daß die Radiumszerfallsreihe eine Verzweigung bei Radium C aufweist. 1912/13 formulierte er unabhängig von und zeitgleich mit Frederick Soddy die nach ihnen benannten radioaktiven Verschiebungsgesetze. 1913 entdeckte F. zusammen mit O. Göhring als erster das Element 91 (Protactinium), allerdings in Form eines kurzlebigen Isotops. (Otto Hahn und Lise Meitner fanden 1918 das langlebigste Isotop, ebenso F. Soddy und John Cranston.) Eine Annahme F.s, daß sich das Gewicht von natürlichem Blei von dem durch radioaktiven Zerfall erhaltenen unterscheide, wurde durch den führenden Atomgewichtsforscher Theodore W. Richards in Harvard, der es sich nicht vorstellen konnte, und den extra dorthin entsandten F.-Doktoranden Max Lembert bestätigt. F.s Einordnung der radioaktiven Elemente in das Periodensystem bildete einen gewissen Abschluß der radiochemischen Grundlagenforschung, bis die Entdeckung der künstlichen Radioaktivität in den 1930er Jahren das Gebiet neu belebte. In Karlsruhe begonnene Untersuchungen führten zu Angaben über die Bedingungen, unter denen ein in sehr geringen Mengen vorliegendes radioaktives Element an einem ausgefällten Niederschlag adsorbiert wird (Fajans-Paneth-Hahn-Regel) und zur Entwicklung des bekannten F.schen Verfahren der Fällungstitration mit Adsorptionsindikatoren. In München befasste sich F. hauptsächlich mit Fragen der Molekül- und Kristallchemie und der chemischen Bindung. Anfänglich lag der Schwerpunkt auf der Thermochemie (Born-Fajans-Haber-Korrelation), dann entwickelte er seine Vorstellungen zur Polarisation (Deformation) der Ionen (als zusätzlicher Faktor neben der Coulomb-Anziehung) mit Anwendungen auf Photochemie und Maßanalyse. Im Zusammenhang damit fanden umfangreiche refraktrometrische Untersuchungen statt. In Ann Arbor kehrte F. anfangs wieder zur Kernchemie zurück, da er dort Zugang zu einem Zyklotron hatte. Die Probleme der chemischen Bindung ließen ihn jedoch nicht los und er entwickelte die "Quantikeltheorie", mit der er die Valenzelektronen klassisch-elektrostatisch zu behandeln versuchte, die allerdings nicht die quantenmechanischen Erklärungen abzulösen vermochte. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kooperierte F. intensiv mit der amerikanischen Glas- und Keramikindustrie bei der Lösung technologischer Probleme.

Q UAM, E-II-1277, OC-N-14 Kasimir Fajans; BayHStAM, MK 43584, MF 68257; Staatsarchiv München, Pol. Dir. 12197; Nachlaß in der Bentley Historical Library, University of Michigan, Ann Arbor.

W Über die stereochemische Spezifizität der Katalysatoren: Katalytische Kohlendioxydabspaltung aus Campho- und Bromcamphokarbonsäuren mittels Alkaloiden, Diss. Univ. Heidelberg 1909 (gedruckt: 1910); Die Verzweigung der Radiumzerfallsreihe, Habil. Technische Hochschule Karlsruhe 1912 (gedruckt: Heidelberg 1912); Radioaktivität und die neueste Entwickelung der Lehre von den chemischen Elementen, Braunschweig 1919 (vierte durchgesehene Auflage, Braunschweig 1930); zus. mit J. Wuest, Physikalisch-chemisches Praktikum, Leipzig 1929, 21935; Radioelements and Isotopes: Chemical forces and optical properties of substances, London 1931; Quanticule Theory of Chemical Binding, Ann Arbor/Michigan 1960, ²1964; Mithg. Handbuch der Experimentalphysik, Band 12,1, Leipzig 1932, Band 12,2, Leipzig 1933; Mithg. Zs. für Kristallographie, 1924-1939; Zs. für Elektrochemie, 1932-1933; Journal of Physical and Colloid Chemistry, 1948-1949; zahlreiche Beiträge in Fachzs.

L American Biographical Archive II; Pogg., Bde. V, VI, VIIa (W); T. M. Dunn, K. F., Nature 259 (1976), 611; G.-M- Schwab, K. F., Jahrbuch der Bayer. Akad. der Wissenschaften (1976), 227-229; Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Band 2, Teil 1, München 1983, 278; J. Hurwic, Reception of K. F.'s Quanticule Theory of the Chemical Bond. A Tragedy of a Scientist, Journal of Chemical Education 64 (1987), 122-123; Lexikon bedeutender Chemiker, Frankfurt am Main 1989, 142; R. E. Holmen, K. F. (1887-1975): The Man and His Work, Bulletin for the History of Chemistry 4 (1989), 15-23, 6 (1990), 7-15; L. Badash, K. F., Dictionary of Scientific Biography, vol. 17, New York 1990, 284-286; J. Hurwic, Kazimierz Fajans (1887-1975). Sylvetka Uczonego, Wroclaw 1991 (W, P); H. Böhm, Von der Selbstverwaltung zum Führerprinzip. Die Universität München in den ersten Jahren des Dritten Reiches (1933-1936), Berlin 1995, 370-373; F. Litten, Der Rücktritt Richard Willstätters 1924/25 und seine Hintergründe - Ein Münchener Universitätsskandal?, München 1999, 11-13.

© Freddy Litten
13.7.2023