Ich wollt', Du wärst ein Roboter ‒ Maschinenwesen im japanischen Zeichentrick
[von der "Augsburger Allgemeinen" am 22. Juni 2006 angenommen; da ein Erscheinen auch nach mehr als drei Jahren noch nicht absehbar war, wurde der Artikel von mir zurückgezogen und wird hier in unveränderter Fassung präsentiert. Übernahme von Informationen bzw. Interpretationen aus diesem Beitrag bitte unter Angabe von Autor, Titel und vollständigem URL.]
Japan ist das Land der Roboter. In der Industrieproduktion sind mehr Roboter als in jedem anderen Land der Welt installiert, aber auch im Servicebereich erfreuen sie sich zunehmender Beliebtheit. Es überrascht daher wenig, daß Maschinenwesen in großer Zahl auch in Manga (gedruckten Comics) und Anime (Zeichentrickfilmen) auftreten. Ihre Präsenz dort ist allerdings komplexer, als man erwarten dürfte, wie ein kurzer Streifzug durch die Geschichte des Roboter-Anime zeigt.
Am 1. Januar 1963 eröffnete bereits ein Roboter das Zeitalter der Animefernsehserien: "Atom" in der Serie "Eisenarm Atom". Basierend auf einem berühmten Manga von Osamu Tezuka, dem "Gott der Manga", erwies sich diese Verfilmung als großer Erfolg und konnte unter dem Titel "Astro Boy" auch international vermarktet werden. Die Geschichte beginnt mit dem Unfalltod eines Jungen, dessen Vater daraufhin einen diesem ähnlich sehenden Roboter erschafft, der intelligent und lernfähig ist. Enttäuscht darüber, daß Atom nicht wie ein Mensch heranwächst, verkauft er ihn nach einiger Zeit an einen Roboterzirkus. Dort rettet Atom dem bösartigen Direktor bei einem Brand das Leben, erhält die Freiheit und wird zu einem Kämpfer für die Menschheit.
Mit Atom, der seinen Namen seiner Antriebsart verdankt, führte Tezuka den intelligenten, humanoiden und positiv betrachteten Roboter ein, der jedoch vorerst eher selten Hauptrollen im Anime erhalten sollte. Dafür folgten "Eisenarm Atom" noch im gleichen Jahr weitere Animefernsehserien, darunter die erste mit einem Riesenroboter: "Eisenmann Nr. 28", in Amerika als "Gigantor" bekannt. Der gleichnamige Manga von Mitsuteru Yokoyama stammte wie "Eisenarm Atom" aus den fünfziger Jahren, in denen mit "Godzilla" auch ein lebendes überdimensioniertes Geschöpf die Bühne betreten hatte.
"Eisenmann Nr. 28", ein im Zweiten Weltkrieg begonnenes Produkt, ist indes kein selbständig agierendes Wesen, sondern lediglich eine zu groß geratene Maschine. Ob Held oder Bösewicht: Wer die Fernbedienung besitzt, hat die Kontrolle. Obwohl auch diese Serie gute Einschaltquoten aufwies, fand sie zunächst kaum Nachahmer.
Mit "Eight Man" nach einer Geschichte von Kazumasa Hirai hatte eine dritte der fünf Animeserien des Jahres 1963 ein Maschinenwesen als Hauptfigur. Hier handelte es sich um einen menschenähnlichen Roboter, dem die Erinnerungen eines ermordeten Polizisten einprogrammiert wurden, also um die Variante eines Cyborgs. Die direkte Verbindung von Mensch und Maschine wurde dann 1966 mit dem Animefilm "Cyborg 009" thematisiert, der auf einem Manga von Shotaro Ishinomori basierte und zwei Jahre später auch zur gleichnamigen Fernsehserie führte.
Spielten Maschinenwesen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre trotz des guten Anfangs nur eine Nebenrolle, so sollten die siebziger Jahre einen wahren Riesenroboter-Boom erleben. Den entscheidenden Schritt dazu vollzog 1972 Go Nagai mit seinem Manga und Anime "Mazinger Z". Zwar war auch dieser Riesenroboter nicht intelligent, aber er wurde von innen von einem Menschen gesteuert. Dies führte zu einem fundamentalen Perspektivwechsel und einer wesentlich stärkeren Verbindung zwischen Mensch und Maschine, ohne jedoch eine Vermischung der beiden wie im Fall eines Cyborgs zu bewirken.
In der Folge fand eine ganze Reihe von Riesenroboter-Anime ihren Weg auf die japanischen Fernsehbildschirme, deren Handlung im wesentlichen nach Schema F aufgebaut war: Der strahlende Held kämpft in seinem gut als Spielzeug zu vermarktenden Riesenroboter gegen den jeweiligen Bösewicht der Woche. Erst ab dem Ende der siebziger Jahre wurde in diesem Teilbereich des Anime der Plot differenzierter und komplexer gehandhabt. Ausschlaggebend dafür war vor allem die Fernsehserie "Mobile Suit Gundam" von Yoshiyuki Tomino, deren Ableger bis heute in allen Medienformen und natürlich als Figuren und Bausätze erfolgreich sind.
Die Charaktere sind nun nicht mehr so einfach in "Gut gegen Böse" einzuteilen, wie die Popularität von Char Aznable (eine Verballhornung von Charles Aznavour) zeigt, der eigentlich zu den Gegnern des recht widerwilligen Helden Amuro Ray zählt, zeitweise aber mit ihm zusammenarbeitet. Die Handlung entwickelt sich über die gesamte Serie. Und an den Robotern begeistern die Fans nicht länger allein irgendwelche Superkräfte, sondern auch eine möglichst detaillierte technische Darstellung - "Mecha-Design", vom englischen "mechanical" abgeleitet, ist längst ein eigenes Spezialgebiet.
Am Charakter des Riesenroboters änderte sich dagegen wenig, auch wenn es jetzt neue Variationen wie die transformierenden Roboter gab: Er blieb ein Werkzeug, obgleich ein sehr geschätztes. Die Einstellung zu solchen Robotern kann man durchaus mit der den Deutschen gerne nachgesagten Liebe zum Auto vergleichen.
Genau diese Rolle als Werkzeug wurde jedoch auch zunehmend in Frage gestellt, vor allem im Cyborg-Anime. Anfang der neunziger Jahre laufen Sex-Androiden Amok in der Videoserie "AD Police" (basierend auf Geschichten von Toshimichi Suzuki), und in Film "Alter Mann Z" (nach einer Erzählung von Katsuhiro Otomo) verwandelt sich das vorgeblich für die Altenpflege gedachte High-Tech-Bett mit biologisch angereichertem Computer in einen transformierenden Roboter. Der verhält sich allerdings keineswegs nach dem Willen seiner Schöpfer, die damit eigentlich eine Waffe testen wollten.
In diesen Fällen liegt die Ursache für das Fehlverhalten der Maschinen explizit in illegalen Experimenten oder Veränderungen, also beim Menschen. Doch die Vermischung des rein maschinellen Geistes mit biologischen Komponenten an sich wird bereits ambivalent betrachtet, wie zwei der bekanntesten Exponenten des Anime in der Mitte der neunziger Jahre zeigen: "Ghost in the Shell" und "Neon Genesis Evangelion".
Auf der Basis eines Manga von Masamune Shirow behandelt Regisseur Mamoru Oshii die Auseinandersetzung zwischen Matoko Kusanagi - deren Körper (shell) künstlich und deren einzig menschlicher Teil ihre Seele (ghost) ist - und dem "puppet master", einer künstlichen Intelligenz, die bei einem außer Kontrolle geratenen Geheimexperiment entstanden ist. Die im Netz und in der physischen Realität angesiedelte Konfrontation wird zu einer Auseinandersetzung mit der Frage benutzt, was Mensch und Maschine eigentlich unterscheidet und wie weit ihre Verbindung gehen kann.
In "Neon Genesis Evangelion", dem bekanntesten Werk des Regisseurs Hideaki Anno, wird eine Gruppe Jugendlicher von einer geheimnisvollen Organisation in Riesenrobotern mit biologischen Komponenten, den sogenannten "Evas", gegen Angreifer aus dem All eingesetzt. Diese Evas erweisen sich jedoch als mehr als bloße Werkzeuge und komplizieren eine ohnehin von politischen Intrigen und psychologischen Problemen gesättigte Geschichte.
Der Erfolg beider Werke führte seitdem zu zahlreichen mehr oder minder direkten Imitaten; interessanterweise fanden sich aber im letzten Jahrzehnt auch die "Nachkommen" Atoms wieder ein, diesmal besonders gerne in niedlicher weiblicher Gestalt. Ein gutes Beispiel ist die Fernsehserie "Chobits" von 2002, der ein Manga des Autorinnenkollektivs CLAMP zugrunde liegt. Hideki, der sprichwörtliche Junge vom Lande, findet in Tokio einen "Pasokon" (Personal Computer) in der dort üblichen Form eines hübschen Mädchens. Er gibt ihr den Namen "Chi" und muß sie langsam erziehen, da ihre Speicher offenbar gelöscht sind. Dabei stellt er fest, daß zahlreiche Menschen in Tokio mit Pasokon zusammenleben, ja deren Gesellschaft der menschlichen vorziehen. Und auch für Hideki stellt sich die Frage, ob er sich in Chi verlieben kann und darf.
Dieser Teilbereich des Roboter-Anime zeigt wieder deutlich, wie positiv besetzt das reine Maschinenwesen in Japan ist, selbst wenn es selbständig intelligent ist, Gefühle imitieren oder sogar empfinden kann. Wenn etwas schiefgeht, was sich allein schon aus dramaturgischen Gründen anbietet, liegt die Schuld sehr viel klarer bei Menschen, die diese Roboter mißbrauchen oder fehlprogrammieren, als dies in westlichen Filmen der Fall ist. Computer oder Roboter, die ohne menschliche Verwicklung Amok laufen, wie "HAL 9000" in Stanley Kubricks "2001" oder der Robot Gunslinger in Michael Crichtons "Westworld", finden im Anime kaum eine Entsprechung.
Man kann nun eine Reihe von Annahmen anführen, warum die Japaner den reinen Robotern so vertrauen, obwohl diese doch von Menschen konstruiert werden und nicht immer auf fest programmierte Robotergesetze verwiesen wird. Ein Grund mag die Shinto-Religion sein, in der auch die unbelebte Natur verehrt wird. Ein weiterer das verbreitete Gefühl, auch nur ein "Werkzeug" zu sein, ob zu Kriegszwecken im Zweiten Weltkrieg oder später als "salaryman" und kleines Rädchen in großen Firmen. Sicherlich spielen auch die Vermarktungsstrategien der Spielzeugindustrie eine Rolle, die ihre Produkte verständlicherweise im besten Licht erstrahlen lassen will. Und man wird den Verdacht nicht los, daß Anime à la "Chobits" auch ein wenig der vorbereitenden Vermarktung der Service-Roboter dient, die nunmehr in den Bereich des Möglichen und Erschwinglichen gelangen.
Deutlich wird jedoch auch, daß im intelligenten Roboter ein Gegenentwurf zum Menschen gesehen wird. Menschen können eben unzuverlässig, unberechenbar, schwierig und böse sein; intelligente Roboter offenbar nicht. Darin liegt seit Tezukas "Eisenarm Atom" eine, vielleicht sogar die große Hoffnung, die Welt zu verbessern. Aber zwischen Chi aus "Chobits" und Atom besteht auch ein erheblicher Unterschied: Atom ist in vielerlei Hinsicht besser als ein Mensch, aber er ist etwas Anderes, kein Ersatz für einen verlorenen Sohn etwa. Und fast folgerichtig gehört Atom als Roboter einer teilweise auch unterdrückten Unterschicht an.
Chi dagegen ist Ausdruck der Hoffnung und gleichzeitig Sorge, daß Roboter den anderen Menschen in allen Beziehungen ersetzen können: nicht nur als Sexobjekte oder Altenpfleger, sondern tatsächlich als vollwertige Lebenspartner. Es ist nicht zuletzt ein Beleg für den Wandel Japans, daß sowohl Schöpfer wie Zuschauer von Anime inzwischen in Mensch-Maschine-Beziehungen, die den zwischenmenschlichen in allen Belangen ebenbürtig sind, eine Möglichkeit sehen, deren Realisierung nicht mehr in den Sternen steht.
© Freddy Litten
13.7.2023