Freddy Litten

(Frederick S. Litten)

Richard Willstätter ‒ Kurzbiographie

Die folgende Kurzbiographie wurde ursprünglich 2000 für den zweiten Band des "Professorenkatalogs" der Ludwig-Maximilians-Universität München verfaßt. Da jedoch das Erscheinen dieses Bandes immer noch nicht absehbar ist, wird sie hiermit in unveränderter Form im Internet präsentiert, um vielleicht doch noch von Nutzen zu sein.
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Willstätter, Richard, * 13. 8. 1872 Karlsruhe, † 3. 8. 1942 Muralto/Locarno, (isr.) ⚭ 1903 Sophie Leser, * 1876, † 1908.
V Max, Textilkaufmann, * 1840, † 1912, M Sophie Ulmann, * 11.6. 1849, † 1928

1883 siedelte W. mit seiner Mutter von Karlsruhe nach Nürnberg über, wo er 1890 am später nach ihm benannten Realgymnasium sein Abitur ablegte; anschließend studierte er in München Chemie. Relativ früh erregte er die Aufmerksamkeit des Ordinarius für Chemie an der Univ. München, Adolf von Baeyer. Am 17. 5. 1894 promovierte er an der Univ. München mit einer unter der Leitung Alfred Einhorns angefertigten Arbeit; am 17. 12. 1896 habilitierte er sich dort und wurde zum Priv.-Doz. ernannt. Am 2. 10. 1902 wurde er zum etatmäßigen ao. Prof. für organische Chemie an der Univ. München ernannt - Vorstand der organischen Abteilung des Chemischen Laboratorium des Staates war er bereits im Sommersemester 1902 nach dem Weggang Johannes Thieles nach Straßburg geworden. 1905 übernahm W. den Lehrstuhl für allgemeine und analytische Chemie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich; 1912 wechselte er nach Berlin als II. Direktor und Vorstand der organischen Abteilung des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie und ordentlicher Honorarprof. an der Univ. Berlin. 1915 als Nachfolger seines Lehrers Adolf von Baeyers berufen, übernahm W. am 1. 4. 1916 die o. Prof. für Chemie an der Univ. München und die damit verbundene Leitung des Chemischen Laboratoriums des Staates. Einen Ruf als Nachfolger Emil Fischers nach Berlin lehnte er 1919/20 ab; als Ausgleich erhielt er den Titel eines Geheimen Rates. In München erneuerte W. das Chemische Laboratorium in vielerlei Hinsicht und baute es, trotz der äußerst schwierigen Zeitverhältnisse, noch aus. So war W. maßgeblich für die Stärkung der physikalischen Chemie (Kasimir Fajans) und den Aufbau des Atomgewichtslabors (Otto Hönigschmid) an der Universität München verantwortlich. Am 24. 6. 1924 sandte W. ein Gesuch um Rücktritt von seiner Professur an den Dekan der Phil. Fak. II. Sektion, Wilhelm Wien. Die Hintergründe dieses Rücktrittsgesuchs, dem nach vergeblichen Bemühungen zahlreicher Personen und Stellen, ihn zum Bleiben zu bewegen, zum 1. 10. 1925 entsprochen wurde, sind komplexer als in den Lebenserinnerungen W.s dargestellt. Antisemitismus gab es wohl vereinzelt in der Fak., doch scheint er nicht so ausgeprägt gewesen zu sein wie das "Ruhebedürfnis", das zu einem gewissen vorauseilenden Gehorsam gegenüber mutmaßlichen "Wünschen" der "Straße" führte. Gegenüber W. lassen sich antisemitische Ausfälle überhaupt nicht feststellen. Bezeichnenderweise verblieb W. auf Wunsch seiner Kollegen in der Fak., gegen anfänglichen Widerstand des Kultusministeriums gegen diese in der Hochschulgeschichte wohl einmalige Regelung. Trotz der anderslautenden Darstellung W.s dürfte dagegen die allgemeine antisemitische Haltung in München in den frühen 1920er Jahren ihn stark zermürbt haben. Hinzu kommen die nicht verarbeiteten familiären Trauerfälle - W.s Frau starb 1908, sein Sohn 1915; beide aufgrund zu spät erkannter Erkrankungen -, völlige Überarbeitung sowie das Stocken der wissenschaftlichen Arbeiten. Nach seinem Rücktritt betrat W. das Chemische Laboratorium nicht mehr, um seinem Wunschnachfolger, Heinrich Wieland, freie Hand zu gewähren. Er unternahm Reisen, widmete sich seinen Kunstinteressen und führte seine chemischen Forschungen mit verringertem Einsatz weiter. Anfangs von den Nationalsozialisten offenbar wenig behelligt, führten die Ereignisse im November 1938 zu seinem Entschluß, nunmehr Deutschland doch zu verlassen, nachdem er wenige Wochen zuvor noch von einer Reise in die Schweiz zurückgekehrt war, die sein Gastgeber Arthur Stoll, ein früherer enger Mitarbeiter und später der Herausgeber seiner Lebenserinnerungen, ohne Rückreise geplant hatte. Anfang März 1939 gelang es ihm, legal in die Schweiz auszuwandern, allerdings mit erheblichen Einbußen an seinem Besitz verbunden. Ein kurz vorher unternommener Fluchtversuch über den Bodensee blieb ohne Folgen für W. Die letzten Jahre verbrachte W. in der Villa L'Eremitaggio in Muralto bei Locarno. Von den zahlreichen Ehrungen, die W. im Laufe seines Lebens aus aller Welt erhielt, sollen hier nur der Nobelpreis für Chemie (1915), der Orden "Pour le mérite" für Wissenschaften und Künste (1924), der Bayer. Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (1925) und die Davy-Medaille der Royal Society in London (1932) erwähnt werden. W. war außerdem Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akad. und gelehrter Gesellschaften im In- und Ausland.

Die wissenschaftlichen Arbeiten W.s decken die organische und Naturstoffchemie sowie die beginnende Biochemie ab und reichen teilweise auch in die anorganische Chemie; ihre Wirkung über zahlreiche später an Hochschulen und in der Industrie tätige Schüler (erwähnt sei nur der Nobelpreisträger Richard Kuhn) sowie als Grundlage oder zumindest Ansporn für andere Forscher war immens. Am Anfang seiner Karriere standen Untersuchungen von Alkaloiden. Hier ist vor allem die Aufklärung der Konstitutionen von Atropin und Cocain zu nennen, die W. früh bekannt machte und auch zur Synthese dieser Stoffe (als letztes Cocain 1923) führte. Die Synthese des Cyclo-octatetraens (1913) zeigte die hervorragenden Experimentierfähigkeiten W.s. Im Zusammenhang mit Arbeiten Adolf von Baeyers beschäftigte sich W. mit der Aromatenchemie, hier besonders mit o-Chinonen und Anilinfarbstoffen, wobei er auch technische Fortschritte (z.B. im Bereich der heterogenen Katalyse) erzielte. Zu den bedeutendsten Forschungen gehören diejenigen zu den Pflanzenfarbstoffen: Anthocyane und vor allem Chlorophyll. In zahlreichen Arbeiten gelang es W. als erstem, Anthocyane zu isolieren und ihre Konstitution aufzuklären, wobei er feststellte, daß die Vielfalt der roten und blauen Blütenfarbstoffe und die der Früchte auf wenige strukturelle Prinzipien zurückgeht. Mit seinen Mitarbeitern konnte W. u.a. nachweisen, daß Chlorophyll in allen grünen Pflanzenteilen aus zwei Komponenten bestehend vorhanden ist und eine komplexe Magnesiumverbindung darstellt; außerdem entdeckte W. das Phytol als Esterkomponente des Chlorophylls. Auch die Ähnlichkeit zum Hämin konnte untermauert werden. Diese bahnbrechenden Arbeiten, für die er den Nobelpreis erhielt, unternahm W. vor allem in Zürich und in Berlin–Dahlem vor dem Ersten Weltkrieg. Die endgültige Konstitutionsaufklärung gelang dann später Hans Fischer. In Fortführung der Arbeiten zum Chlorophyll beschäftigte sich W. auch mit der Kohlensäureassimilation der Pflanzen, der "Photosynthese". Während des Ersten Weltkriegs entwickelte er auf Wunsch seines Freundes Fritz Haber die Gasmaske unter Verwendung von Hexamethylentetramin und erhielt dafür 1917 das Eiserne Kreuz II. Klasse am weißen Band mit schwarzer Einfassung. Studien zum Cellulose-Abbau (Grundlage des Bergius-Verfahren der Holzverzuckerung) fallen ebenfalls in diese Zeit. In München begann W. mit einem neuen Forschungsgebiet: den Enzymen. Hier jedoch stellte sich der rasche Erfolg nicht ein, was wohl auch mit teilweise falschen Grundannahmen zusammenhing; allerdings erwiesen sich die entwickelten Methoden (z.B. Aluminiumhydroxid als Adsorptionsmittel) für spätere Untersuchungen als nützlich. Die Arbeiten nach seinem Rücktritt, vor allem in den 1930er Jahren mit Margarete Rohdewald zum Glykogen, blieben ohne weitreichende Bedeutung.

Q UAM, E-II-N Richard Willstätter; BayHStAM, MK 18064; Archiv der Bayer. Akad. der Wissenschaften, R. W.

W Constitution und Reduction der p-MethylendihydrobenzoĂ«säure, Diss. Univ. München 1894; Untersuchungen über die Tropingruppe, Habil. Univ. München 1896 (gedruckt in mehreren Beiträgen in: Berichten der deutschen chemischen Gesellschaft 29 (1896)); zus. mit F. Hocheder, Chlorophyll III. Über die Einwirkung von Säure und Alkali auf Chlorophyll, Justus Liebig's Annalen der Chemie 354 (1907), 205-258 [diese Arbeit betrachtete W. als Höhepunkt seines wissenschaftlichen Weges]; zus. mit A. Stoll, Untersuchungen über Chlorophyll, Berlin 1913; zus. mit A. Stoll, Untersuchungen über die Assimilation der Kohlensäure, Berlin 1918; Untersuchungen über Enzyme, Berlin 1928; Aus meinem Leben. Von Arbeit, Muße und Freunden, hg. von Arthur Stoll, Weinheim 1949 [zweite Auflage 1958; englische Übersetzung: From My Life, New York 1965]; mehrere hundert Beiträge in Fachzs.

L DBA N. F.; Bosl; Pogg., Bde. IV, V, VI, VIIa (W); A. Stoll, Prof. R. W. †, Technik - Industrie und Schweizer Chemiker-Zeitung (1942), 235-236; A. Sommerfeld, R. W. zum Gedächtnis, Deutsche Beiträge 1 (1946/47), 371-377; H. Wieland, R. W., Jahrbuch der Bayer. Akad. der Wissenschaften 1944-1948 (1948), 194-198; R. Kuhn, R. W. 1872-1942, Die Naturwissenschaften 36 (1949), 1-5; F. Wessely, R. W., Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1949, 99 (1950), 296-306; W. Prandtl, Die Geschichte des Chemischen Laboratoriums der Bayer. Akad. der Wissenschaften in München, Weinheim 1952, 87-88, 99-104, 116-118 (P); Lüttringhaus, Nachruf auf R. W., Jahrbuch der Deutschen Akad. der Wissenschaften zu Berlin (1952/1953), 236-241; R. Robinson, W. Memorial Lecture, Journal of the Chemical Society (1953), 999-1026; R. Robinson, R. W., Obituary Notices of Fellows of the Royal Society 8, 22 (1953), 608-634 (W, P); R. Kuhn, R. W. - Von den Jahren in Dahlem (1912-1916), Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (1954), 131-136 (P); R. Pummerer, R. W., in: Geist und Gestalt, Band 2, München 1959, 175-192; R. Huisgen, R. W., Journal of Chemical Education 38 (1961), 10-15 (P); J. Renz, R. W. 1872-1942 und seine Bedeutung für die Entwicklung der Chemie, Helvetica Chimica Acta 56 (1973), 1-14; A. Schellenberger, R. W. - Gedanken über ein Forscherleben in schwerer Zeit, Mitteilungen der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina 18 (1972), 121-128; I. Strube, R. W. (1872-1942) zu seinem 100. Geburtstag, NTM 10 (1973), 87-99; J. S. Fruton, R. W., Dictionary of Scientific Biography vol. 14, New York 1976, 411-412; Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Bd. 2, Teil 2, München 1983, 1248; M. Meister, Der Rücktritt R. W.s. Ein Kapitel Münchner Universitätsgeschichte, Manuskript, Bayerischer Rundfunk, 6.3.1983; F. Krafft, R. W., in: Große Naturwissenschaftler, Hg. F. Krafft, Düsseldorf 1986, 352-354; D. Nachmansohn, Die große Ära der Wissenschaft in Deutschland 1900-1933. Jüdische und nichtjüdische Pioniere in der Atomphysik, Chemie und Biochemie, Stuttgart 1988, 200-232; P. Werner, A. Irmscher (Hg.), Fritz Haber - Briefe an Richard Willstätter, Berlin 1995; J. V. H. Dippel, Bound upon a wheel of fire. Why so many German Jews made the tragic decision to remain in Nazi Germany, New York 1996 [deutsche Ausgabe: Die große Illusion. Warum deutsche Juden ihre Heimat nicht verlassen wollten, Weinheim 1997]; F. Litten, Der Rücktritt R. W.s 1924/25 und seine Hintergründe - Ein Münchener Universitätsskandal?, München 1999; U. Lindgren, Erfolg mit "Abfall" von Experimenten. Innovative Köpfe Bayerns: Der Chemiker R. W., Unser Bayern 49 (2000), Nr. 3, 32-33; H. Remane (Hg.), R. W. im Briefwechsel mit Emil Fischer in den Jahren 1901-1918, Berlin 2000.

© Freddy Litten
13.7.2023