Freddy Litten

(Frederick S. Litten)

Hugo von Seeliger ‒ Kurzbiographie

Die folgende Kurzbiographie wurde ursprünglich 1993 für den zweiten Band des "Professorenkatalogs" der Ludwig-Maximilians-Universität München verfaßt und 2000 auf den damals neuesten Stand gebracht. Da jedoch das Erscheinen dieses Bandes immer noch nicht absehbar ist, wird sie hiermit in seitdem unveränderter Form im Internet präsentiert, um vielleicht doch noch von Nutzen zu sein.
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Seeliger, Hugo Hans Ritter von, * 23. 9. 1849 Biala bei Bielitz/Österreichisch Schlesien, † 2. 12. 1924 München. (ev.) ⚭ 1885 Sophie Stoeltzel.
V Bürgermeister.

Aus einer wohlhabenden Familie stammend, absolvierte S. 1867 das Gymnasium in Teschen und studierte an den Univ. Heidelberg und Leipzig. Den Haupteinfluß übten dabei die Arbeiten Carl Neumanns und Carl Friedrich Gauß' aus. Am 28. 5. 1872 promovierte S. mit einer astronomischen Arbeit bei Carl Christian Bruhns an der Univ. Leipzig, blieb bis 1873 Volontär an der Univ.sternwarte Leipzig und ging dann bis 1877 als Assistent an die Sternwarte der Univ. Bonn zu Friedrich Wilhelm Argelander. Dort habilitierte er sich 1877 und wurde am 15. 2. 1877 zum Priv.-Doz. ernannt, ging aber bereits im nächsten Jahr nach Leipzig, wo er am 15. 10. 1878 zum Priv.-Doz. ernannt wurde. Am 1. 10. 1881 wurde er Direktor der Sternwarte Gotha, zum 15. 10. 1883 erhielt er die o. Professur für Astronomie an der Univ. München, verbunden mit der Leitung der Sternwarte München-Bogenhausen (Nachfolge Johann v. Lamont). Es folgten Ablehnungen zahlreicher Rufe, z. B. nach Straßburg oder an das Astrophysikalische Observatorium Potsdam, sowie zahlreiche Auszeichnungen, z.B. Ritter des Kgl. Preußischen Roter-Adler-Ordens III. Klasse 1896, das Ritterkreuz des Verdienstordens der Bayer. Krone 1902, Titel und Rang eines Kgl. Geheimen Hofrates 1906, Komturkreuz des Verdienstordens der Bayer. Krone 1908, Kommandeurkreuz I. Klasse des Kgl. Schwedischen Nordsternordens 1912, Ritter des Kgl. Preußischen Ordens pour le merite für Wissenschaft und Kunst 1915, Verdienstorden vom hl. Michael II. Klasse mit Stern 1917. S. war Mitglied der Bayer. Akad. der Wissenschaften, deren Präsident er von 1. 4. 1919 bis 31. 12. 1923 war, außerdem der Akad. der Wissenschaften von Wien, Berlin, Washington, Göttingen, Rom, usw., sowie Mitglied des Kuratoriums der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Nachdem er von 1883 bis 1896 Schriftführer der Astronomischen Gesellschaft gewesen war, stand er ihr von 1896 bis 1921 vor.

S. war einer der bekanntesten und bedeutendsten Astronomen seiner Zeit. In der Forschung sind vier Schwerpunkte zu benennen: Himmelsmechanik, Photometrie, Theorie der Novae und Stellarstatistik. Die Himmelsmechanik hatte S. bereits in seiner Dissertation über Doppelsternbewegungen beschäftigt, blieb aber bis ins Alter eines seiner Lieblingsgebiete. Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten über das Mehrfachsternsystem ζ Cancri. Auch allgemeinere Untersuchungen zum Mehrkörperproblem und Gravitationsgesetz unternahm S., wobei er sich später gegen die Relativitätstheorie stellte. Die Arbeiten zur Photometrie behandeln vor allem das Zodiakallicht und die Saturnringe, Phänomene, die S. in Verbindung mit kosmischem Staub stellte (in letzterem Fall wurde dies noch zu Lebzeiten bestätigt). Hiermit hängt auch S.s (verfehlte) Theorie über die Nova-Entstehung zusammen. Beide Themenkomplexe bearbeitete S. etwa bis 1910. Am wichtigsten sind indes S.s Forschungen zur Stellarstatistik, ein Gebiet, das durch seine und J. C. Kapteyns Forschungen in vollem Maße begründet wurde. Sein "typisches Sternsystem" hatte erheblichen Einfluß, wurde aber aufgrund später als unzutreffend erkannter Annahmen (überall gültige Verteilungsfunktion der absoluten Helligkeiten, vernachlässigbar kleine Lichtabsorption) in den 20er Jahren wieder verworfen. Dagegen blieb die Bedeutung des mathematischen Apparats. Neben diesen theoretisch-mathematischen Untersuchungen war S., vor allem zu Beginn seiner Laufbahn, auch als Beobachter tätig gewesen, z.B. bei einer Venusdurchgangsexpedition 1874. Sicherlich ebenso bedeutend war S. als Lehrer. 34 Dissertationen, darunter die von Ernst Anding, Julius Bauschinger, Paul ten Bruggencate, Gustav Herglotz, Richard Schorr und vor allem Karl Schwarzschild, listet sein Schüler Hans Kienle auf. Seine Vorlesungen über Wahrscheinlichkeits- und Fehlerrechnung sind hier speziell zu erwähnen.

Q UAM, E-II-677 Hugo von Seeliger, OC-N 14 Hugo von Seeliger; BayHStAM, MK 44326; Archiv der Bayer. Akad. der Wissenschaften, H.v. S.

W Zur Theorie der Doppelsternbewegungen, Diss. Univ. Leipzig 1872; Theorie des Heliometers, Habil. Univ. Bonn 1877 (gedruckt: Leipzig 1877); zahlreiche Artikel vor allem in den Astronomischen Nachrichten und den Publikationen der Bayer. Akad. der Wissenschaften; Hg.: Neue Annalen der Kgl. Sternwarte in Bogenhausen bei München; Hg.: Meteorologische und magnetische Beobachtungen der Kgl. Sternwarte bei München.

L DBA N. F.; Bosl; Poggendorff, Bde. III, IV, V, VI (W); G. Deutschland, Die Untersuchungen H. v. S.s über das Fixsternsystem, Vierteljahrsschrift der Astronomischen Gesellschaft 54 (1919), 25-131; H. Kienle, Nekrolog auf H. v. S., Vierteljahrsschrift der Astronomischen Gesellschaft 60 (1925), 1-23 (W, P); A. Wilkens, H. v. S.s wissenschaftliches Werk, München 1927; H. v. S., Jahrbuch der Ludwig-Maximilians-Universität München 1919-1925, München 1928, 64-67; E. von der Pahlen, Lehrbuch der Stellarstatistik, Leipzig 1937, 370-409; K. Ferrari d'Occhieppo, H. v. S., in: Grosse Österreicher - Neue Österreichische Biographie ab 1815, Bd. XI, Zürich 1957, 177-184; F. Schmeidler, H. v. S., Dictionary of Scientific Biography, Bd. 12, New York 1972, 282-283; F. Schmeidler, H. v. S. (1849-1924), in: Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten, Hg. Laetitia Boehm, Berlin 1972, 410-416; E. R. Paul, S., Kapteyn, and the Rise of Statistical Astronomy, Diss. Indiana University 1976; J. Thiele, Briefe H. v. S.s an Ernst Mach, Philosophia Naturalis 17 (1979), 391-399; F. Krafft, H. v. S., in: Große Naturwissenschaftler, Hg. F. Krafft, Düsseldorf 1986, 312-313; F. Litten, Astronomie in Bayern 1914-1945, Stuttgart 1992; G. D. Roth, Ein Statistiker der Sternenwelt: der Münchner Astronom H. v. S., Manuskript, Bayerischer Rundfunk, 1992; V. Witt, 150 Jahre H. v. S. (1849-1924), Sterne und Weltraum 38 (1999), Heft 12, 1096.

P Geist und Gestalt, Bd. 3, München 1959, Abb. 157.

© Freddy Litten
13.7.2023